Manch kitschige, aber auch schöne Geschichten werden gerne erzählt. Die eine oder andere kann man hier nachlesen

 

Vom König mit den leeren Händen

In einer Gemeinde sollte ein Krippenspiel sein; wie jedes Jahr am Heiligen Abend. Diesmal hatten junge Leute das Krippenspiel selber geschrieben. Und sie hatten wirklich an alles gedacht. Sogar an Ochs und Esel, ja, sogar an das Stroh.

Bei der Generalprobe, bei der angeblich generell alles schief gehen muss, ging tatsächlich allerhand ziemlich schief. Kaum einer hatte seinen Text im Kopf, die Kulisse war noch kolossal unfertig, und was das Schlimmste war: Die drei Könige hatte man schlichtweg vergessen.

Aus unerfindlichen Gründen hatte man diese so wichtigen Rollen überhaupt nicht besetzt. Da man sie aber irgendwie doch für unentbehrlich hielt, schlug jemand vor, in der Gemeinde rumzufragen, wer spontan bereit wäre, König zu sein. Es müsse ja jetzt kein Text mehr auswendig gelernt werden, es würde genügen, wenn die drei ein Geschenk mitbrächten und das an der Krippe ablegten. Gesagt, getan.

Und so war es wieder einmal ganz plötzlich Weihnachten und der Heilige Abend stand auf dem Programm. Die Kirche war voll, die Leute gespannt und die Schauspieler aufgeregt. Das Krippenspiel begann, und es begann gut, es lief wunderbar, niemand blieb hängen, und wenn doch mal einer ins Stottern kam, war es genau an der richtigen Stelle und hat zur Weihnachtsgeschichte wunderbar gepasst.

Und dann die letzte Szene: Auftritt der drei Könige, die 'last Minute' zu dieser Ehre gekommen waren. Ungeprobt sozusagen traten sie auf, ganz live, wie es eben ist im Leben.

Der erste König war ein Mann, Mitte vierzig vielleicht, oder auch schon älter. Er hatte eine Krücke dabei, brauchte sie aber offenbar nicht. Alle schauten gespannt und spitzten die Ohren, als er die Krücke vor der Krippe ablegte und sagte:
Ich hatte in diesem Jahr einen Autounfall. Ich lag lange im Krankenhaus. Niemand konnte mir sagen, ob ich je wieder laufen kann. Jeder kleine Fortschritt war für mich ein Geschenk. Diese Zeit hat mein Leben verändert. Ich bin aufmerksamer und dankbarer geworden. Es gibt für mich nichts Kleines und Selbstverständliches mehr, aufstehen am Morgen, sitzen, gehen und stehen, dabei sein, alles ist wunderbar, alles ein Geschenk. Ich lege diese Krücke vor die Krippe als Zeichen für meinen Dank für den, der mich wieder auf die Beine gebracht hat!
Es war sehr still geworden in der Kirche, als der zweite König nach vorne trat.
Der zweite König war eine Königin, Mutter von zwei Kindern.
Sie sagte:
Ich schenke dir etwas, was man nicht kaufen und nicht sehen und nicht einpacken kann und was mir heute doch das Wertvollste ist. Ich schenke dir mein Ja, mein Einverständnis zu meinem Leben, wie es geworden ist, so wie du es bis heute geführt hast, auch wenn ich zwischendurch oftmals nicht mehr glauben konnte, dass du wirklich einen Plan für mich hast. Ich schenke dir mein Ja zu meinem Leben und allem, was dazu gehört, meine Schwächen und Stärken, meine Ängste und meine Sehnsucht, die Menschen, die zu mir gehören, mein Ja zu meinem Zweifel auch und zu meinem Glauben. Ich schenke dir mein Ja zu dir, Heiland der Welt!

Jetzt trat der dritte König vor. Ein junger Mann mit abenteuerlicher Frisur, top gekleidet, gut gestylt, so wie er sich auf jeder Party sehen lassen könnte, und alles hielt den Atem an, als er mit ziemlich lauter Stimme sagte:
Ich bin der König mit den leeren Händen!
Ich habe nichts zu bieten. In mir ist nichts als Unruhe und Angst. Ich sehe nur so aus, als ob ich das Leben leben kann, hinter der Fassade ist nichts, kein Selbstvertrauen, kein Sinn, keine Hoffnung.
Dafür aber viel Enttäuschung, viel Vergebliches, viele Verletzungen auch.
Ich bin der König mit den leeren Händen.
Ich zweifle an so ziemlich allem, auch an dir, Kind in der Krippe. Meine Hände sind leer. Aber mein Herz ist voll; voller Sehnsucht nach Vergebung, Versöhnung, Geborgenheit und Liebe.
Ich bin hier und halte dir meine leeren Hände hin und bin gespannt, was du für mich bereit hast.

Tief beeindruckt von diesem unerwarteten Königsauftritt zum guten Schluss stand jetzt eine merkwürdig bedrückende Sprachlosigkeit im Raum
bis Josef spontan zur Krippe ging, einen Strohhalm herausnahm, ihn dem jungen König in die leeren Hände gab und sagte:
Das Kind in der Krippe ist der Strohhalm, an den du dich klammern kannst!

Weil alle spürten, dass so gesehen alle mehr oder weniger Könige mit leeren Händen waren, trotz voller Taschen und Geschenk, konnte man die Betroffenheit mit Händen greifen. Und so kam es, dass am Ende alle Leute in der Kirche nach vorne zur Krippe gingen und sich einen Strohhalm nahmen.
Und da wurde auf einmal deutlich, dass es am Heiligen Abend ganz und gar keine Schande ist, mit leeren Händen dazustehen, sondern geradezu die Voraussetzung, daß man etwas entgegennehmen, etwas bekommen kann.

( von Dr. Ludwig Burgdörfer - aus: “Erst eilig, dann heilig“ ) 

 

Aus dem Tagebuch eines Weihnachtsengels

24. Dezember. Mitternacht. Ich frage mich ernsthaft, ob ich überhaupt gemacht bin für diesen Beruf. Ich könnte mir im neuen Jahr etwas anderes suchen. Vielleicht werde ich Briefträger. Ich hatte beschlossen, in die Kirche zu gehen. Zur Feier des Tages zog ich meine Festtagssachen an. Weißes Kleid, Federflügel, das volle Programm. Um Drei Uhr kam ich nicht mehr hinein in die Kirche. Die Dame im Eingang sagte mitleidig, da hätte ich schon vor einer Stunde da sein müssen. Ich erfuhr, dass es noch drei weitere Gottesdienste gäbe. 

Um 16:00 Uhr kam ich dann auch hinein. Ich stellte mich vorn neben den Weihnachtsbaum und rief: "Fürchtet euch nicht!" - weiter kam ich nicht. Ein Mann im dunklen Anzug zog mich zur Seite und raunte, ich wäre noch nicht dran. 

Um 18:00 Uhr war es ruhiger. Voller Hoffnung wollte ich meine Botschaft unter die Menschen bringen. Ich stellte mich auf die oberste Stufe und wollte gerade ansetzen, da kam mir der Posaunenchor zuvor. Meine Worte verklangen unter "Oh, du Fröhliche!". 

Um 23:00 Uhr war ich erschöpft. Dennoch trat ich hervor und rief: "Euch ist heute der Heiland geboren!" Der Pastor zischte, dass wir doch abgesprochen hätten, eine moderne Übersetzung zu benutzen. Ich wusste nicht, was er meinte, und gab auf.
Draußen setzte ich mich auf die Stufen der Kirche. Die klare Luft tat gut. Dann läuteten die Glocken und die Menschen strömten hinaus. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. "Bist du ein Engel?", fragte eine alte Dame. Sie trug einen gestreiften Pyjama unter ihrem Mantel, was ich sonderbar fand. Ich nickte. Sie strahlte. "Na, dann guck doch nicht so bedröppelt. Ist doch Weihnachten!" 

Schnell zog sie ein Mann beiseite und entschuldigte sich. Seine Mutter sei etwas wirr.
Wirr? - Vielleicht; aber sie hatte mich erkannt.

( S. Niemeyer ) 

 

Der vierte König

Außer Caspar, Melchior und Balthasar war auch ein vierter König aus dem Morgenland aufgebrochen, um dem Stern zu folgen, der ihn zu dem göttlichen Kind führen sollte. Drei wertvolle rote Edelsteine hatte er zu sich gesteckt und mit den drei anderen Königen einen Treffpunkt vereinbart. Aber sein Reittier lahmte unterwegs. Er kam nur langsam voran, und als er bei der hohen Palme eintraf, war er allein. Nur eine kurze Botschaft, in den Stamm des Baumes eingeritzt, sagte ihm, dass die anderen ihn in Bethlehem erwarten würden. Er ritt weiter, ganz in seinen Wunschträumen versunken. Plötzlich entdeckte er am Wegrand ein Kind, bitterlich weinend und aus mehreren Wunden blutend. Voll Mitleid nahm er das Kind auf sein Pferd und ritt in das Dorf zurück, durch das er zuletzt gekommen war. Er fand eine Frau, die das Kind in Pflege nahm. Aus seinem Gürtel nahm er einen Edelstein und vermachte ihn dem Kind, damit sein Leben gesichert sei. Doch dann ritt er weiter, seinen Freunden nach. Er fragte die Menschen nach dem Weg, denn den Stern hatte er verloren ...

Eines Tages erblickte er den Stern wieder, eilte ihm nach und wurde von ihm durch eine Stadt geführt. Ein Leichenzug begegnete ihm. Hinter dem Sarg schritt eine verzweifelte Frau mit ihren Kindern. Der vierte König sah sofort, dass nicht allein die Trauer um den Toten diesen Schmerz hervorrief. Der Mann und Vater wurde zu Grabe getragen. Die Familie war in Schulden geraten, und vom Grabe weg sollten die Frau und die Kinder als Sklaven verkauft werden. Er nahm den zweiten Edelstein aus seinem Gürtel, der eigentlich dem neugeborenen König zugedacht war. "Bezahlt, was ihr schuldig seid, kauft euch Haus und Hof und Land, damit ihr eine Heimat habt!" Er wendete sein Pferd und wollte dem Stern entgegen reiten - doch dieser war erloschen. Sehnsucht nach dem göttlichen Kind und tiefe Traurigkeit überfielen ihn. War er seiner Berufung untreu geworden? Würde er sein Ziel nie erreichen?

Einige Zeit später leuchtete ihm sein Stern wieder auf und führte ihn durch ein fremdes Land, in dem Krieg wütete. In einem Dorf hatten Soldaten die Bauern zusammengetrieben, um sie grausam zu töten. Die Frauen schrieen und Kinder wimmerten. Grauen packte den König, Zweifel stiegen in ihm auf. Er besaß nur noch einen Edelstein - sollte er denn mit leeren Händen vor dem König der Menschen erscheinen? Doch dies Elend war so groß, dass er nicht lange zögerte, mit zitternden Händen seinen letzten Edelstein hervorholte und damit die Männer vor dem Tode und das Dorf vor der Verwüstung loskaufte. Müde und traurig ritt er weiter. Sein Stern leuchtete nicht mehr. Jahrelang wanderte er. Zuletzt zu Fuß, da er auch sein Pferd verschenkt hatte. Schließlich bettelte er, half hier einem Schwachen, pflegte dort Kranke; keine Not blieb ihm fremd. Und eines Tages kam er am Hafen einer großen Stadt gerade dazu, als ein Vater seiner Familie entrissen und auf ein Sträflingsschiff, eine Galeere, verschleppt werden sollte. Der vierte König, der nunmehr nichts mehr besaß als sich selbst, flehte um den armen Menschen und bot dann an, anstelle des Unglücklichen als Galeerensklave zu arbeiten. Sein Stolz bäumte sich auf, als er in Ketten gelegt wurde.

Jahre vergingen. Er vergaß, sie zu zählen. Grau war sein Haar, müde sein zerschundener Körper geworden. Doch irgendwann leuchtete sein Stern wieder auf. Und was er nie zu hoffen gewagt hatte, geschah. Man schenkte ihm die Freiheit wieder; an der Küste eines fremden Landes wurde er an Land gelassen. In dieser Nacht träumte er von seinem Stern, träumte von seiner Jugend, als er aufgebrochen war, um den König aller Menschen zu finden. Eine Stimme rief ihn: "Eile, eile!" Sofort brach er auf, er kam an die Tore einer großen Stadt. Aufgeregte Gruppen von Menschen zogen ihn mit, hinaus vor die Mauern. Angst schnürte ihm die Brust zusammen. Einen Hügel schritt er hinauf, Oben ragten drei Kreuze. Der Stern, der ihn einst zu dem Kind führen sollte, blieb über dem Kreuz in der Mitte stehen, leuchtete noch einmal auf und war dann erloschen. Ein Blitzstrahl warf den müden Greis zu Boden. "So muss ich also sterben", flüsterte er in jäher Todesangst, "sterben, ohne dich gesehen zu haben? So bin ich umsonst durch die Städte und Dörfer gewandert wie ein Pilger, um dich zu finden, Herr?" Seine Augen schlossen sich. Die Sinne schwanden ihm. Da aber traf ihn der Blick des Menschen am Kreuz, ein unsagbarer Blick der Liebe und Güte. Vom Kreuz herab sprach die Stimme: "Du hast mich getröstet, als ich jammerte, und gerettet, als ich in Lebensgefahr war; du hast mich gekleidet, als ich nackt war!" Ein Schrei durchbebte die Luft - der Mann am Kreuz neigte das Haupt und starb. Der vierte König erkannte mit einemmal: Dieser Mensch ist der König der Welt. Ihn habe ich gesucht in all den Jahren. - Er hatte ihn nicht vergebens gesucht, er hatte ihn doch gefunden.

( nach einer alten russischen Legende )

  

Da die Zeit erfüllt ward

Eine Weihnachtsgeschichte von Larry Christenson
"Boss, du siehst einfach wunderbar aus", antwortete Benjamin voller Stolz; und man sah seine Zähne wie Perlen in seinem schwarzen Gesicht glänzen. Er hatte fast den ganzen Tag gebraucht, um Raphaels allerbestes Leinengewand zu waschen und zu bügeln, und er meinte bei sich selbst: "So prachtvoll hat der Erzengel noch nie ausgesehen, seit dem Tag, an dem er als oberster Nachrichtenengel eingesetzt wurde." 

"Dies ist auch kein gewöhnlicher Ball, Benjy. Der Lord hatte diesen 'Achtung-jetzt-kommt-was-Wichtiges-Ton' in seiner Stimme, als er mich anrief. So doll, wie er ihn nicht gehabt hat seit - ja, seit er die Kinder Israel aus Ägypten gelassen hat, wenn ich mich recht erinnere." - "Well, dann sag ich, du siehst auch ganz und gar übergewöhnlich aus", platzte Benjamin heraus. Raphael lächelte und klopfte Benjamin auf die Schulter, als er hinausmarschierte, zur Unterredung mit dem Lord.
"Raphael, du weißt wohl, was dies ist, sagte der Lord und holte ein großes Stundenglas aus dem Schrank hinter seinem Schreibtisch. - "Yes, Sir, das ist die Zeit, Lord" - "Richtig, Raph. Nun sieh genau hin: Die untere Hälfte ist fast voll. Oben sind nur noch ein paar Körnlein." - "Ja, ich sehe es, Lord." - "Es dauert nicht mehr lange, dann ist die Zeit erfüllt, Raph." Raphaels Augen blitzten vor Erregung. Das konnte nur eines bedeuten - Posaunen und Blitz und Donner und all die Mächtigen der Erde würden zusammengerufen werden -, der größte Tag seit der Schöpfung - und er, Raphael, der oberste Nachrichtenengel würde das ankündigen - Halleluja!
"Meinst du, Lord, daß es nun losgehen soll da unten?" "Es ist schon unterwegs, Raph", sagte der Lord und lächelte sein tiefes Lächeln. "Schon unterwegs? - Wie - wie weit unterwegs?" fragte Raphael ziemlich unruhig. "Es ist nur noch einen Monat hin." "Lord, das ist eine mächtig kurze Zeit. Wie soll ich so schnell alle die Könige, Prinzen und Leute der Erde zusammenholen? Kannst du das nicht ein bißchen verlängern?" "Geht schlecht."
Der Lord stand von seinem Stuhl auf und ging zum Fenster. "Komm mal her!" sagte er. "Was ist los, Lord?" "Guck mal da runter auf die Erde, Raphael. Siehst du den kleinen Punkt dort, dieses Dorf?" "Meinst du Nazareth dort, in Galiläa?" "Ja. Und siehst du die junge Frau, die da vom Brunnen kommt?" "Mit dem Wasserkrug auf der Schulter?" "Nein, hinter ihr. Die mit dem Kleiderbündel." "Yes, yes. Die sehe ich." "Die ist es", sagte der Lord. "Die soll seine Mutter werden." "Seine Mutter...?" wiederholte Raphael etwas verwirrt. Er blinzelte etwas, um besser sehen zu können. "Jetzt siehst du, was ich meinte", sagte der Lord und ging wieder weg vom Fenster, "die Zeit kann man nicht verlängern."

Raphael ging hinter dem Lord her zum Schreibtisch. Er mußte ein bißchen husten, weil ihm etwas im Halse steckte. "Was ist mit dir?" fragte der Lord und setzte sich wieder. "Oh, nichts, Lord, nichts, bestimmt nichts. Es ist nur..." - "Nur was?" - "Well, Lord, es ist nur, mir scheint, es ist ein bißchen - ein bißchen gewöhnlich, wenn er da unten wie so ein ganz gewöhnliches Kind geboren wird." - "Das war aber schon immer mein Plan." - "Yes, Lord." - "Sieh mal, Raph", sagte der Lord, "ich möchte, daß dies eine Sache wird, die nicht viel Lärm macht. Deshalb habe ich dir bis jetzt auch noch nichts davon erzählt. Große Fanfaren und Trommelwirbel sind gar nicht nötig." "Aber, Lord", widersprach Raphael, "du meinst doch nicht, daß wir die Zeit erfüllen sollen ganz ohne Posaunen und Blitz und Donner?" "Keine Posaunen, Raph." "Kein Blitz und Donner?" "Auch kein Blitz und Donner."

Hilflos zuckte Raphael mit den Schultern. "Well, dann soll ich bloß sitzen und zugucken?" sagte er und versuchte seine Enttäuschung zu verbergen. "Viel kann ein oberster Nachrichtenengel ja nicht tun, so ganz ohne Posaunen und Blitz und Donner." Der Lord stand von seinem Stuhl auf und legte seine Hand auf Raphaels Schulter. "Ich weiß, Raph, du bist ein bißchen niedergeschlagen, weil du deine Posaunen und Blitz und Donner nicht gebrauchen darfst, aber die passen in diesem Fall nicht. Hier brauchen wir etwas anderes, etwas ohne Lärm und voller Würde. So wie..." "Wie was, Lord?" - "WeIl, vielleicht wie ein Stern." "Ein Stern? Aber wer in aller Welt wird einen kleinen gewöhnlichen nixigen Stern beachten?" "Mach es nur so, Raph. Hol seinen Stern und tu ihn an den Himmel. Es gibt da unten immer noch einige, die die Sterne lesen können. Und es brauchen in diesem Fall auch gar nicht viele zu sein."

Der Lord sah wieder zum Fenster, und sein Blick wurde tief und geheimnisvoll und vielleicht ein bißchen traurig. Raphael machte seine Verbeugung und ging davon. An der Tür hielt er noch einmal an und räusperte sich etwas verlegen. "Vielleicht nur einen kleinen, ganz kleinen Chor, Lord. Schwester Rebekka hat einen Engelchor, der mächtig gut klingt -" Der Lord sah Raphael sehr ernst an. "Keine große Sache, Lord, nur ein bißchen was für so ein paar gewöhnliche Leute auf dem Lande - Hirten oder so ähnlich." - "Auch keinen Chor, Raph." - "Bloß den Stern?" - "Bloß den Stern." - "O.k., Lord." Raphael seufzte und schlurfte aus der Tür.
Am andern Tag nahm Raphael Benjamin mit und tat den Stern an den Himmel, wie der Lord gesagt hatte. Benjamin, der gern auf die glückliche Seite der Dinge schaute, bemerkte, daß der Lord diesen Stern doch etwas heller gemacht hatte als die andern. Aber für Raphael sah er aus wie ein gewöhnlicher Stern. Traurig schüttelte er den Kopf. Die Erfüllung der Zeit stand dicht bevor, und dann sollte er nur mit so einem kleinen nixigen Stern der Welt erzählen, daß der Sohn Gottes auf die Erde kommen würde. Der Lord konnte es doch manchmal schwer machen, sogar für einen Erzengel. 

Benjamin überwachte den Stern, aber nach drei Wochen meldete er Raphael, daß unten auf der Erde kaum jemand Notiz davon genommen hatte. Nur drei Sterndeuter im Osten hätten ihn gesehen. Die schienen die einzigen unten auf der Erde zu sein, die noch die Sterne lesen könnten, und sie hätten sich auf die Reise gemacht nach Palästina, um zu sehen, was dort geschehen würde. Auch als oberster Nachrichtenengel kann man doch manchmal sehr flaue Tage haben, dachte Raphael. Da bereitete sich nun der ganze Himmel auf die Erfüllung der Zeit vor, und alles, was er bei dieser Gelegenheit dazu tun konnte, waren drei ganz gewöhnliche weise Männer aus dem Osten.
Benjamin sah Raphaels Enttäuschung und wünschte, daß er irgend etwas sagen könnte, um ihn zu helfen oder ihn aufzumuntern. "Laß doch, Boss", sagte er warmherzig, "warum gehst du eigentlich nicht hin und machst mit bei all den anderen Engeln und ihren Vorbereitungen? Ich kann gut allein auf diesen kleinen Stern aufpassen." "Ich schätze, ich kann da draußen doch nicht viel helfen", sagte Raphael tonlos. "Aber, natürlich kannst du, Boss. Bloß weil du unten auf der Erde nichts tun kannst, brauchst du doch nicht von all den Festlichkeiten hier oben wegzubleiben. Du weißt doch, daß Schwester Rebekka immer ganz glücklich wird, wenn du ihr beim Engelchor ein bißchen hilfst. Es ist eben kein anderer hier, der so viel von Musik versteht wie du, Boss." Raphael nickte mit dem Kopf, und ein winziges Lächeln lief über sein Gesicht. "Du hast vielleicht recht, Benjy. Es hat ja keinen Zweck, wenn man von der ganzen Sache wegbleibt, bloß weil es nicht so geht, wie ich es gehofft hatte. Wir können immerhin auch hier oben noch etwas ,Verkündigung' tun." "Das ist ganz klar, Boss", sagte Benjamin glücklich. Raphael strich sich nachdenklich mit den Fingern über das Kinn, und es kam wieder etwas von dem alten Ton des obersten Nachrichtenengels in seine Stimme. "Wollen mal sehn, vielleicht können Schwester Rebekka und ich ja ein klein bißchen etwas Besonderes für die Sache auf die Beine bringen. Ich denke, der Lord würde auch Spaß dran haben." "Bestimmt, Boss, ganz bestimmt würde er das", sagte Benjamin aus vollem Herzen. Raphael lachte und stürmte quer durch den Himmel, um Schwester Rebekka aufzusuchen, die mit ihrem Engelchor probte.

Als die Zeit erfüllt war, saß Raphael neben dem Lord, und alle anderen Engel saßen rund herum und blickten zur Erde. Die Jungfrau Maria und Joseph, ihr Mann, machten den langen Weg von Nazareth bis Bethlehem. Die Herberge war voll. Deshalb wurden sie für die Nacht im Stall einquartiert. Und dort im Stall wurde der Sohn Gottes geboren. Maria wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe. Darüber gab es manche Verwunderung bei den Engeln. Schwester Rebekka flüsterte Raphael ins Ohr, daß ein neuer kleiner Posaunenstoß den Wirt dieser Herberge doch sicher zur Besinnung gebracht hätte. Raphael dachte auch, daß es doch mächtig gewöhnlich sei, daß er in einem Stall geboren wurde. Aber er sah, daß der Lord tief in Gedanken versunken war, deshalb sagte er nichts.
Nach einer Weile sagte der Lord zu Raphael, ohne seine Augen von der Erde zu wenden: "Wann werden eigentlich diese drei Weisen ankommen, Raph?" "Well", sagte Raphael fast ein bißchen entschuldigend, "sie haben in Jerusalem angehalten, um beim König Herodes Näheres zu erfahren, und sind dort ein bißchen aufgehalten worden. In ein paar Stunden werden sie aber da sein." - "Erzählt ihnen lieber, daß sie auf dem Rückweg nicht wieder zu Herodes hingehen, Raph. Er hat nichts Gutes im Sinn." "Yes, Sir, machen wir, Lord." 

Wieder war der Blick des Lords tief. Raphael sagte sehr leise, um den Lord nicht in seinen Gedanken zu stören: "Lord..." "Ja?" "Schwester Rebekka und der Engelchor haben ein kleines Gesangstück eingeübt zu dieser Gelegenheit, - nur für hier oben - und nur, wenn es dir Spaß macht." - "Ich würde mich darüber freuen, Raph. Wo sind die kleinen Engel? "Sie sind alle hier, Lord. Es kann losgehen." Schwester Rebekka hob ihre Hand, und der Engelchor sang Raphaels neues Lied, um die Geburt des Gottessohnes zu feiern. "Das war ein feines Lied", sagte der Lord, als der Chor zu Ende war. "Vielen Dank, Schwester Rebekka. Vielen Dank, Raphael "Da war nicht viel dabei, Lord", sagte Raphael bescheiden. Dann sagte eine Weile niemand etwas.
Das Kind unten schlief jetzt. Maria saß neben der Krippe und träumte vor sich hin. Joseph hielt Wache an der Tür. Nach einer Weile ließ Raphael doch noch einmal ein Wort fallen. "Lord, es ist doch ein niedlicher kleiner Kerl, nicht wahr?" "Ich meine, es ist nur ein ganz gewöhnlich aussehendes kleines Baby, Raphael." Raphael dachte dasselbe, meinte aber, es sei doch nicht recht, das zu sagen. "Lord, was wird eigentlich mit ihm geschehen unten auf der Erde?" - "Er soll genauso aufwachsen wie jedes gewöhnliche Kind." "Aber wenn er erwachsen ist, was wird dann mit ihm geschehen? Wird er dann eine Regierung übernehmen oder ein Heer aufstellen, um die Dinge da unten wieder in Ordnung zu bringen?" Der Blick des Lords wurde noch tiefer. "Nein, es wird dasselbe mit ihm geschehen, was mit jedem gewöhnlichen Menschen geschieht." "Und was ist das, Lord?" - "Er wird sterben." 

Über Raphaels breites Gesicht lief ein Zug von Bestürzung und tiefem Kummer. "Aber Lord", er sagte das fast flüsternd, "er ist doch dein Sohn ... und das wäre doch dasselbe, als wenn du selbst sterben müßtest." - "Du hast recht, Raph." Raphael wandte sich zu Benjamin, der an seiner Seite saß, um zu sehen, ob er den Lord richtig verstanden hätte. Benjamin schüttelte nur den Kopf. "Aber Lord", fragte er weiter wie ein Kind, das nicht nachlassen kann zu fragen, obwohl es die Antwort fürchtet, "wird er dann für immer tot sein?" Der Lord wandte sich langsam zu Raphael und lächelte mit seinem tiefen Lächeln. "Nein, Raph, für immer wird er nicht tot sein."
Für einen Augenblick saß Raphael und sah nur den Lord an, ohne daß sein Gesicht einen Ausdruck zeigte. Dann endlich stieg es in ihm auf, wie eine Luftblase aus einem ganz tiefen Wasser aufsteigt, und ein Lächeln so breit wie der Himmel selbst folgte darauf. "Lord, du bist wirklich der Herr! Keiner ist Herr als nur du, Lord! - Hast du gehört, was er gesagt hat, Benjy?" wandte er sich an seinen Chef-Sekretär-Engel. "Hast du gehört; was der Lord gesagt hat? Nicht für immer wird er tot sein." - "Ja, Raph, ich höre. Das ist doch so ganz und gar übergewöhnlich, nicht wahr?" "Raph", sagte der Lord und sah wieder einmal zur Erde hinunter, "es sieht mir doch ein bißchen zu einsam und gewöhnlich aus da unten. Wenn bloß diese weisen Männer nicht aufgehalten wären!" "Sie werden aber ganz bald da sein, Lord." "Na trotzdem -, es wird wohl nichts schaden, wenn wir Schwester Rebekka und ihren Engelchor nach unten schicken, - nur um ein paar Leuten zu erzählen, was da in Bethlehem geschehen ist." - "Meinst du wirklich, Lord?" - "Wie denkst du darüber, Schwester Rebekka?" fragte der Lord. "0 Lord, das fände ich wundervoll" - "Raphael?" - "Lord, ich denke, das wäre genau das Richtige." 

In der Gegend von Bethlehem waren Hirten, die bewachten ihre Herden. Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!